Ob Brücken oder Konzertmuscheln: Der 3D-Druck fasst im Baugewerbe Fuß
3D-Druck im Bauwesen? Was bis vor Kurzem allenfalls Hobbybastlern oder Teilnehmern von Planungswettbewerben in den Sinn gekommen wäre, setzt sich heute rapide durch.
So haben beispielsweise Forscher der Technischen Universität Eindhoven im Juni mit der Bekanntgabe des Project Milestone ihren Plan vorgestellt, mittels 3D-Druck eine Reihe von Betonhäusern in Obelisk-Form zu bauen. Als Grundlage sollen Entwürfe des Architekturbüros Houben & Van Mierlo Architecten dienen. Ihr Vorhaben beschreiben die Forscher als „das weltweit erste gewerbliche Wohnbauprojekt aus dem 3D-Drucker“. Dabei ist der Wohnungsbau lediglich ein Aspekt eines aufkommenden Marktes, dessen Gesamtwert sich einem Branchenbericht zufolge bis 2040 auf schätzungsweise 40 Milliarden USD belaufen soll – im Vergleich zu knapp 70 Millionen USD im Jahr 2017.
Die Baubranche hat die zahlreichen Vorteile, die der 3D-Druck unter anderem bei der Umsetzung komplexer Formen, den Bauarbeiten in gefährlichen oder abgelegenen Regionen sowie der Reduzierung von Materialabfällen und Baukosten birgt, offenbar für sich entdeckt. Infolge der Entwicklung besserer 3D-Druck-Software und -Hardware und der damit einhergehenden praktischen Nutzungsmöglichkeiten stößt die Technologie sowohl bei traditionellen Baufirmen als auch bei innovativen Start-ups auf verstärktes Interesse. Nachfolgend verraten wir Ihnen, welche Anwendungsfälle in der Branche zurzeit für Furore sorgen.
Anwendungsfall Nr. 1: Brücken
Lange Zeit waren dem Maßstab druckbarer Objekte durch die Größe des jeweiligen 3D-Druckers Grenzen gesetzt. Nun möchte das niederländische Unternehmen MX3D, das mit dem Slogan „We Speak Robot“ (zu Deutsch etwa „Wir sprechen die Sprache der Roboter“) wirbt, mithilfe von industriellen 6-Achsen-Robotern, eigenentwickelter Software und einem Schweißverfahren zum schichtweisen Aufbringen von Edelstahl aus dünnen Drahtlegierungen eine 12 Meter lange Fußgängerbrücke über einer der ältesten Grachten Amsterdams bauen: dem 1367 ausgehobenen Oudezijds Achterburgwal.
Bevor es dazu kommen kann, muss das gemeinsam von Arup und dem Joris Laarman Lab konzipierte sowie von Autodesk, ArcellorMittal, Heijmans, Lenovo und anderen Partnern unterstützte Brückenprojekt jedoch zunächst entsprechende Belastungstests am Imperial College London bestehen. „Bei einer derart innovativen und experimentellen Brücke muss man Belastungstests auf völlig neue Art und Weise angehen“, erklärt Tim Geurtjens, Mitgründer und ehemaliger Chief Technical Officer von MX3D. „Heutzutage werden solche Tests normalerweise digital durchgeführt. Man testet einen Entwurf mithilfe von Software und verpasst dem Ganzen gemäß Vorschriften den passenden Stempel. Doch was 3D-gedruckte Strukturen angeht, haben wir es zu weiten Teilen mit unbekannten Materialeigenschaften zu tun.“ Zur Lösung des Problems plant MX3D, anhand eines physischen Modells der Brücke die Tragfähigkeit verschiedener Elemente wie beispielsweise Geländer auf die Probe zu stellen, um bei Bedarf gezielte Anpassungen vorzunehmen.
Die Brücke soll im Oktober im Rahmen der Dutch Design Week vorgestellt und – sofern alles nach Plan läuft – 2019 in Amsterdam für Fußgänger begehbar sein. Ein vom Alan Turing Institute entwickeltes Netzwerk von Sensoren soll dabei in Echtzeit sowohl Daten zu strukturellen Aspekten wie Belastung, Vibration und Verschiebung als auch zu Umweltfaktoren erheben. Diese Informationen sollen anschließend vom Amsterdam Institute for Metropolitan Solutions in das intelligente Infrastruktur-Netzwerk der Stadt eingespeist werden. Unterdessen betont Geurtjens: „Der 3D-Druck bietet mehr als nur Effizienz. Er vermag auch mehr Lebensqualität zu spenden und ästhetische Ansprüche zu befriedigen, was in unseren Augen ebenso wichtig ist. Es geht nicht nur um kommerziellen Gewinn, sondern auch darum, die Möglichkeiten des Machbaren auszureizen.“
Anwendungsfall Nr. 2: Wohnbauprojekte
Im Hinblick auf 3D-gedruckte Wohngebäude scheinen sich Bauunternehmen nur noch mit dem Besten vom Besten zufriedenzugeben: Immer größer, schneller, kostengünstiger und materialeffizienter soll es sein. Firmen aus allen Ecken der Welt gehen dabei mit gutem Beispiel voran: Neben einem kompakten Betonhaus, das ein Moskauer Unternehmen namens Apis Cor in nur 24 Stunden zum Schnäppchenpreis von 10.000 USD gedruckt haben will, sorgte auch ein von der chinesischen Firma Winsun mithilfe eines riesigen 3D-Duckers und wiederverwerteten Werkstoffen realisiertes fünfstöckiges Wohngebäude für Aufsehen.
Zu den zweifelsohne faszinierendsten Projekten in diesem Zusammenhang zählt das YRYS Concept House, das in Zusammenarbeit von insgesamt 18 Partnerfirmen verwirklicht wurde, darunter das französische Bauunternehmen Maisons France Confort und der auf großformatige 3D-Drucklösungen spezialisierte Anbieter XtreeE. Im Spritzgussverfahren zum Pressen schnell härtender Betonschichten schaffte XtreeE eine perforierte Wand sowie vier Stützpfeiler zur Stabilisierung der Räumlichkeiten der oberen Stockwerke.
Für Jean-Daniel Kuhn, Mitgründer von XtreeE, ist Beton aus der französischen Architektur kaum wegzudenken – zu Recht, bildete Le Corbusiers Vorliebe für „béton brut“ (der französische Begriff für „roher Beton“) doch die Grundlage des brutalistischen Architekturstils. Dennoch hat das Team von XtreeE die drastische Reduzierung des Betonverbrauchs zu einem seiner Leitprinzipien erklärt. „Die Welt ist aus Beton gebaut“, meint Kuhn. „Die Herstellung von Zement, dem wichtigsten Bestandteil von Beton, ist für acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Beton ist ein wirklich fantastischer Werkstoff, doch im Interesse der Nachhaltigkeit wollen wir versuchen, ihn nur dort einzusetzen, wo es aus struktureller Sicht notwendig ist.“
Anwendungsfall Nr. 3: Künstliche Korallenriffe
Zurzeit arbeitet XtreeE an dem laut Eigenaussage „weltweit ersten 3D-gedruckten Korallenriff aus Beton“. Gemeinsam mit dem auf Meerestechnik spezialisierten Unternehmen Seaboost konnte bereits eine poröse Betonstruktur entwickelt und im Mittelmeer vor der französischen Südküste zum Einsatz gebracht werden. Hier, im Nationalpark Calanques, soll sie einem von Menschenhand zerstörten ökologischen Lebensraum neuen Atem einhauchen.
Wie Kuhn erklärt, sollen die unregelmäßigen tunnelartigen Formen des künstlichen 3D-gedruckten Riffs Spezies wie Fische, Algen, Weichtiere und weitere Korallenbewohner anziehen, deren Zahlen seit den 1970er und 1980er Jahren infolge der Abwassereinleitung der Stadt Marseille zurückgehen. Die künstlichen Gänge und Hohlräume des „Riffs“ sind den Kalksteinformen natürlicher Korallenriffe nachempfunden und bieten andernfalls wehrlosen Arten Schutz vor Raubfischen.
Obwohl Kuhn den 3D-Druck für viele Anwendungszwecke nach wie vor für wenig kosteneffizient hält, geht er davon aus, dass der Markt angesichts verschiedener staatlicher Maßnahmen vor einem Umbruch steht. So sollen bis 2030 etwa 25 Prozent aller neuen Gebäude in den Vereinigten Arabischen Emiraten aus dem 3D-Drucker stammen, und auch Großbritannien verfolgt mit der „National Strategy for Additive Manufacturing“ seit 2017 das Ziel, im Baugewerbe verstärkt auf additive Fertigung zu setzen. „Die Entwicklung, die der 3D-Druck gerade durchmacht, ist in etwa vergleichbar mit dem Weg, den BIM zurückgelegt hat“, fährt Kuhn fort. „Das Potenzial zur Materialeinsparung ist enorm und Regierungsbehörden erkennen allmählich die damit einhergehenden ökologischen Vorteile.“
Anwendungsfall Nr. 4: Pavillons und Konzertmuscheln
Dank eines Verfahrens namens Cellular Fabrication (C-Fab) ist das im US-Bundesstaat Tennessee beheimatete Unternehmen Branch Technology in der Lage, anhand von Entwürfen aus gängiger Architektursoftware wie AutoCAD, Revit oder Maya Drahtgittermodelle in nahezu jeder erdenklichen Gestalt zu erstellen. Die zellenartigen Strukturen werden anschließend von algorithmisch gesteuerten Robotern gedruckt und wie eine Schalung mit herkömmlichen Werkstoffen gefüllt. „Das Ganze ist gewissermaßen eine Analogie zur menschlichen Zelle“, so Platt Boyd, Gründer und CEO von Branch Technology. „Die 3D-gedruckten Bauelemente sind vergleichbar mit der äußeren Hülle der Zelle. Und genau, wie eine Zelle Blut und Wasser braucht, so kann auch die Struktur erst durch das Füllmaterial ihre Funktion erfüllen.“
Im Juni 2018 enthüllte das Unternehmen mit einer eigens für das Stadtgestaltungs-Projekt OneC1TY in Nashville (Tennessee) entworfenen Konzertmuschel die sämtlichen Berichten zufolge bisher größte 3D-gedruckte Struktur der Welt. Die von der im texanischen Houston ansässigen Entwicklungsgesellschaft Cambridge in Auftrag gegebene und in Zusammenarbeit mit Thornton Tomasetti von CORE Studio realisierte Konstruktion ragt ganze 6 Meter in die Höhe und hat einen Durchmesser von 13 Metern. Dabei ist sie gemäß lokalen Bauvorschriften in der Lage, 30 Zentimetern Eis, 25 bis 30 Zentimetern Schnee sowie Windstärken von bis zu 145 km/h standzuhalten.
Entgegen ersten Analysen, denen zufolge zur Stabilisierung der weit gespannten Bögen der Konzertmuschel Stahlunterkonstruktionen erforderlich gewesen wären, ergaben Folgestudien, dass sich durch unregelmäßige, kurvenförmig verlaufende Bogenformen der Einsatz von Stahl mit Ausnahme des Fundaments vermeiden ließe. So gelang es, das Projekt budgetgerecht abzuschließen – zur Hälfte des Preises einer vergleichbaren Stahlkonstruktion.
„Als Architekt muss man sich häufig mit Nullachtfünfzehn-Strukturen zufriedengeben“, weiß Boyd aus eigener Erfahrung. „Das Aufkommen parametrischer Gestaltungsansätze hat äußerst interessante Ideen hervorgebracht, doch im Moment bleibt es größtenteils noch bei Renderings oder hochkarätigen Projekten von Stararchitekten, die mit enormen Kosten verbunden sind. Die Aussicht, solche kreativen Entwürfe im Rahmen alltäglicher Bauprojekte umzusetzen, ohne gleich das Budget zu sprengen, ist wirklich vielversprechend.“