Big Data und VR revolutionieren die Architektur: ein Blick in die Zukunft der Branche
Der Einzug von Big Data in die Architektur hat die Planung und Gestaltung von Gebäuden unwiderruflich geprägt – doch die Fortschritte in diesem Bereich sind noch gar nichts im Vergleich zu dem Einfluss, den die Kombination aus Big Data und virtueller Realität auf die Branche ausüben wird.
Kaum zu glauben, welche Fortschritte innerhalb der Architektur – sogar noch vor der Integrierung von VR-Systemen – dank Sensordaten und Crowdsourcing gemacht wurden. So wurde das Architekturbüro Sasaki Associates beispielsweise vor einigen Jahren von der Harvard University mit der Renovation der Fakultät für Politikwissenschaft, Staatswissenschaft, Politische Ökonomie und Public Policy der renommierten Universität beauftragt, der sogenannten John F. Kennedy School of Government. In der frühen Planungsphase sollte das Sasaki-Team zunächst unter Studierenden und Lehrkräften Feedback zum Campus sammeln. Eine der ersten Fragen befasste sich damit, auf welchen Wegen Studierende in das Innere des Universitätsgebäudes gelangten.
Früher wären die meisten Architekturbüros die Sache aus heutiger Sicht wohl eher umständlich angegangen. Vermutlich hätte man einen armen Studenten dafür bezahlt, den ganzen Tag mit einem Handzähler neben dem Haupteingang zu sitzen und jedes Mal auf den Knopf zu drücken, wenn jemand durch die Tür kam. Das Team von Sasaki Associates setzte hingegen auf sein Mapping-Tool MyCampus, um zu messen, wie viele Studierende das Gebäude durch welchen Ein- bzw. Ausgang betraten und verließen. Die Studierenden wurden außerdem gebeten, ihren Weg über den Harvard-Campus mitsamt Start- und Endpunkt in Form eines Diagramms darzustellen.
Zur Überraschung der Architekten stellte sich heraus, dass die Mehrheit der Studierenden das Gebäude der Kennedy School so gut wie nie durch den Haupteingang betrat, sondern meistens einen kürzeren Weg über eine Laderampe wählte. Diese Informationen konnten anschließend im Rahmen der Generalplanung berücksichtigt werden.
Ein ähnlicher Ansatz war bereits früher unter Planungs- und Baufirmen bei der Konstruktion von Armeestützpunkten beliebt: Man baute die einzelnen Infrastrukturen und untersuchte dann nach drei bis vier Wochen, wo sich Trampelpfade gebildet hatten. Überall dort, wo das Gras zertreten war, wurden gepflasterte Wege angelegt. Obwohl diese Herangehensweise durchaus clever war, wirkt sie im Vergleich zu den heutigen Methoden von Sasaki eher primitiv – ganz zu schweigen davon, was die Zukunft bringen wird.
Datenbasierte Studienerlebnisse
Als Architekt muss man in der Lage sein, jede Menge Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Hier sind jedoch schnell die Grenzen des Menschenmöglichen erreicht. Forschungen im Bereich der Informationstheorie haben ergeben, dass unser Gehirn pro Sekunde mit 11 Millionen Bits an Information regelrecht bombadiert wird. Davon können jedoch jeweils nur rund 50 Bits auf einmal verarbeitet werden. Doch so wie ein Bild bekanntlich mehr als tausend Worte sagt, ist ein VR-Erlebnis aussagekräftiger als tausend Informationsbits. Wenn Daten in ein immersives und realitätsnahes visuelles Erlebnis eingebettet werden, können Designer diese weitaus effektiver und effizienter aufnehmen.
Es ist keineswegs abwegig, zu spekulieren, dass der Trend in Zukunft in Richtung Behavorial Modeling gehen wird – nicht etwa in Form komplexer Systemsimulationen, sondern vielmehr durch den Einsatz von Avataren (virtuellen Figuren), die über individuelle Eigenschaften und Merkmale verfügen und dementsprechend miteinander interagieren. Wenn Architekturen also in Zukunft an einem Bebauungsplan für einen Campus arbeiten, können sie Stundenpläne, Diagramme von 40 oder mehr relevanten Gebäuden sowie Avatare für jeden einzelnen Studierenden einbauen. Das Konzept könnte anschließend anhand von Simulationen getestet werden, die das tatsächliche Verhalten von Studierenden und Lehrkräften über den gesamten Tagesverlauf realitätsgetreu widerspiegeln.
Die Verwendung von Behavorial Modeling eröffnet ein enormes Spektrum an Möglichkeiten. Ich erinnere mich noch, als ich an den Planungsarbeiten für ein gemeinsames Gebäude für die rechts- und betriebswirtschaftlichen Fakultäten der Wake Forest University in North Carolina beteiligt war. Die Anforderungen der beiden Fakultäten überschnitten sich in vielerlei Hinsicht, etwa was die Anzahl an Seminarräumen, Büros für Dozenten, Studierendenzentren, Bibliotheken und so weiter anging. Hätte man alle diese Anforderungen jeweils einzeln für die beiden Fakultäten aufgelistet und auf dieser Basis Bedarfsparameter erstellt, wäre das Gebäude wohl weitaus größer ausgefallen, als es angesichts der zahlreichen Überschneidungen notwendig gewesen wäre.
So wie ein Bild bekanntlich mehr als tausend Worte sagt, ist ein VR-Erlebnis aussagekräftiger als tausend Informationsbits.
Als ich mich mit dem Brandschutzbeauftragten der Uni bezüglich der Planung von Notausgängen beriet, betonte ich, dass eine Person sich natürlich nicht zur gleichen Zeit an mehreren Orten befinden konnte. Ein Studierender konnte sich nicht gleichzeitig im Vorlesungssaal, in der Bibliothek, im Hof und in der Mensa aufhalten. Ebenso wenig konnte eine Dozentin zur gleichen Zeit in der Cafeteria, ihrem Büro und einem Vorlesungssaal sein. So konnte ich mein Gegenüber letztendlich überzeugen, den tatsächlichen Bedarf an Einrichtungen wie Feuerleitern und sogar Toiletten anhand einer Simulation zu bestimmen, die auf der geschätzten Anzahl von Studierenden basierte, die sich zu jeder gegebenen Zeit im Gebäude befand – und das Ergebnis ließ sich sehen: Das fertige Gebäude war weitaus effizienter, als es ohne die Simulation möglich gewesen wäre.
Datenbasierte Entscheidungen dieser Art werden in Zukunft sehr viel leichter zu treffen sein: Ein Architekt, der einen Brandschutzbeauftragten von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen möchte, wird lediglich eine Simulation in einem virtuellen Modell vornehmen müssen, um triftige Beweise zu haben. Zum Beispiel ist es durchaus denkbar, dass er in der Lage sein wird, ein ganzes Set von Avataren zu kaufen, anhand dessen sich die gesamte geisteswissenschaftliche Studentenschaft der Uni simulieren lässt. Dann müsste er den virtuellen Studierenden nur noch freien Lauf auf dem simulierten Campus lassen und beobachten, was sie den lieben langen Tag so treiben.
Angenommen, die Unileitung wollte anschließend ein neues Gebäude speziell für die Germanisten bauen, so könnte der Architekt unter anderem zunächst das Verhalten der simulierten Germanisten analysieren und anhand der Stundenpläne der echten Studierenden ermitteln, in welchen anderen Gebäuden diese Vorlesungen und Seminare besuchen, bevor sie sich auf den Weg in das neue Fakultätsgebäude machen. Das wäre insofern ein beachtlicher Schritt nach vorne, als man nicht mehr ausschließlich auf Erfahrung und Intuition angewiesen wäre, sondern anhand von Big Data aussagekräftige performative Analysen durchführen könnte.
Auch Studierende der Yale University werden wohl schon bald ihre VR-Brillen aufsetzen dürfen, wird doch davon ausgegangen, dass die Zahl der Bachelor-Studierenden nächstes Jahr um ganze 15 Prozent steigen wird, wobei es bislang keine Pläne gibt, den Campus um neue Unterrichtsräume zu erweitern.
Virtuelle Intensivstationen
Ein weiterer sinnvoller Anwendungsbereich für die gebündelten Möglichkeiten von VR und Big Data könnte die Gestaltung von Intensivstationen für Krankenhäuser sein. So ziemlich jede Firma im Gesundheitssektor dürfte bereits Dutzende solcher Stationen entworfen haben, und zumindest theoretisch wurden die Baupläne im Laufe der Jahre auch immer besser. Vor 20 Jahren setzte man sich in einem ersten Schritt mit dem Auftraggeber zusammen und versuchte herauszufinden, wie viele Betten man brauchte, wie weit die Planung oder Konstruktion des Gebäudes an sich vorangeschritten war und wie der Grundriss der Intensivstation überhaupt aussah. Anschließend ging man den Grundriss zusammen mit dem Personal der Intensivstation durch und nahm so lange Änderungen vor, bis man zuversichtlich sein konnte, dass man einen Bauplan entworfen hatte, der auch in der Praxis Sinn machte. Dennoch musste man nach Abschluss der Bauarbeiten unvermeidlich feststellen, dass es noch unzählige Details und Feinheiten auszumerzen gab.
Wagen wir als Vergleich einen Blick in die Zukunft. Wir schreiben das Jahr 2022. Architekten können mittlerweile auf Nutzungsdaten von 25 bis 30 verschiedenen Intensivstationen zurückgreifen, um Muster im Zusammenhang mit der Patientenzahl zu ermitteln. Und nicht nur das – sie verfügen darüber hinaus über ein digitales Modell, das den Materialfluss innerhalb des Krankenhauses veranschaulicht, und können ein 3D-Modell der Intensivstation anfertigen. Anstatt dass Mitarbeiter der Intensivstation sich Grundrisse ansehen müssen, aus denen sie ohnehin nicht schlau werden, können sie sich – mithilfe eines VR-Headsets und einer Lösung wie Autodesk Revit Live – in einer virtuellen Umgebung frei bewegen, um ihren zukünftigen Arbeitsplatz tatsächlich zu sehen und zu nutzen.
In einem solchen Szenario wären Mitarbeiter in der Lage, Lichter nach Belieben zu verschieben, Türen zu öffnen und Geräte zu bedienen. All das könnte anhand von Daten in hochauflösendem 3D-Format bildlich oder sogar in Form eines Videospiels dargestellt werden, damit Auftraggeber einen quantitativen Eindruck davon bekommen, was sie erwarten können. Und dabei wird mehr als nur der Sehsinn zur Geltung kommen: Wie laut ist die Arbeitsumgebung? Wie ist die Temperatur? Wie steht es mit der Luftqualität? Und vor allem: Wie kann man Patienten hier am besten betreuen? Solche und ähnliche Fragen werden sich anhand immersiver Erlebnisse problemlos beantworten lassen.
In naher Zukunft wird Architekten ein sehr viel umfangreicherer Schatz an Informationen zur Verfügung stehen – sowohl bessere historische Daten zu vergleichbaren, bereits umgesetzten Projekten als auch die Möglichkeit, geplante Projekte durch realitätsnahe Simulationen zu optimieren und möglichst effizient anzugehen. Na dann, legen Sie sich am besten schon mal eine VR-Brille zu!